Das Weltsozialforum, das vom 27. Januar bis 1. Februar 2009 in Belém do Pará (Brasilien) stattfand, können wir zwar nicht als Veranstaltung der FIAN-Gruppe Berlin verbuchen, aber wir haben hier einen Bericht aus erster Hand von unserem Gruppenmitglied Kim Weidenberg.
„Em breve“ – in aller Kürze – heißt in Brasilien so viel wie „Setz dich, nimm dir Zeit“, denn nun folgt eine lange und ausführliche Rede. Ähnlich dem syrischen “Unter uns gesagt“, was die Einleitung einer möglichst lang anhaltenden Verbreitung von Gerüchten und Geschichten bedeutet, lieben es viele BrasilianerInnen, ihre Meinung zu fast allen Themen kundzutun, zu begründen und mit vielen Gesten und Beispielen zu untermalen.
Diese brasilianische Eigenheit war sicher nur eine der Herausforderungen auf dem WSF für viele NordamerikanerInnen und EuropäerInnen, die aus dem Winter nach Belém bei 35 Grad und 70 Prozent Luftfeuchtigkeit kamen. Im Verlaufe des Forums wurden sowohl bei den meisten EuropäerInnen als auch in der internationalen Presse die Stimmen und Beschwerden über das „chaotische und anarchische“ Weltsozialforum immer lauter. Alle hatten mit verschobenen, verlegten oder nicht stattfindenden Veranstaltungen zu kämpfen. Es herrschte in einigen Räumen der beiden Universitäten ein Sauna-ähnliches Klima, in den klimatisierten Räumen konnte jedoch mit Temperaturstürzen bis zu 20° gerechnet werden. Das führte innerhalb weniger Tage zu einer erheblichen Dezimierung sowohl der TeilnehmerInnenzahl als auch der VeranstalterInnenzahl, die dann mit Grippe im Bett lagen.
Schon allein die Hin- und vor allem die Rückfahrt zu den beiden Orten war jeden Tag aufs Neue ein Kampf mit dem Ungewissen und eine Herausforderung an die schon arg strapazierte Gleichmut. Natürlich hat sich die Stadt Belém und ihre Verwaltung Gedanken über die zusätzlichen 100.000 BesucherInnen gemacht. Belém hat im Alltag ca. 1000 Busse täglich im Einsatz. Ab dem ersten Tag des Forum gab es dann 1000 Busse, nur halt dreimal so voll. Die eine Straße, die zu den Universitäten führt, stand ab 6:30 morgens bis 21:00 abends im Stau, so dass auch die zahlreichen Taxis nicht schneller waren. Taxis ließen freilich mehr Platz für die Mitfahrenden und auch der Ort der Ankunft war einfacher zu bestimmen. Das war in den Bussen bei weitem nicht garantiert, trotz der vielen HelferInnen an der Bushaltestelle. Diese führten eigentlich nur zu einer weiteren Verwirrung, da die Auskünfte doch recht unterschiedlich waren. Mir passierte es, dass ich gebeten wurde, an der einen Haltestelle eine halbe Stunde auf einen Bus in die Richtung meines Orientierungspunktes Shopping-Center Iguatemi wartete. Als der Bus dann kam, war der Busfahrer aber ganz anderer Meinung und so fuhr er ohne mich. Nach einer weiteren halben Stunde fuhr ich dann selbstständig mit dem Bus, wo Iguatemi draufstand. Ich konnte das Haus dann auch über 40 Minuten lang immer wieder von Ferne sehen, während die Kreise, die der Bus zog, anstatt enger immer weiter wurden. Gerade als ich in einer mir völlig unbekannten Gegend aussteigen wollte, sagte der Fahrer, dass es nun nur noch 15 Minuten dauern würde. Was dann auch stimmte und so kam ich mit nur 2-stündiger Verspätung an, was eigentlich gar nicht schlecht ist. Diese und andere Kleinigkeiten wie tropische Regengüsse haben sicher einige BesucherInnen überfordert.
Doch ist die Frage, ob das die Enttäuschung und Polemik, mit dem dieses erste in Amazonien stattfindende Forum bedacht wurden, rechtfertigt. Einige sprechen nun dem Forum sogar seine Existenzberechtigung ab. Die Enttäuschung über eine mangelnde inhaltliche Auseinandersetzung mit globalen Themen entspringt meiner Meinung nach eher einer gekränkten Eitelkeit der EuropäerInnen und NordamerikanerInnen, die dieses Mal nicht im Mittelpunkt der Veranstaltungen standen. Denn wenn viele indigene Gemeinden und afrobrasilianische Gruppen sich zusammengetan haben und bis zu 5 Tagen mit dem Bus unterwegs waren, um aus Acre und Rondônia nach Belém zu kommen, wenn diese Menschen an Diskussionen bei unerträglicher Hitze über 3 Stunden lang immer noch aktiv teilnehmen, dann haben zumindest sie doch anscheinend gute Gründe und eine sehr hohe Motivation.
Dieses Weltsozialforum war bestimmt von den Menschen aus dem Amazonas und ihren UnterstützerInnen. Theoretische Diskurse waren schwer zu finden. Die Zelte, in denen die 2005 in Anapú ermordete Missionarin Dorothy Mae Stang besungen wurde, waren immer voll. In jedem freien Raum fanden Treffen statt, in denen verschiedene Gruppen sich versammelten, Strategien überlegten und ihre Netzwerke vertieften. Die Themen waren zu großen Teilen regional verankert. Veranstaltungen zu Sojaplantagen in Santarém und dem illegalen Hafen von Cargill platzten aus allen Nähten. Die Veranstaltungen zu den Staudämmen von Belo Monte und anderen Großprojekten gerieten mehr zu Demonstrationen von Wut und Ärger über den Umgang mit ihrem Land. Neue Informationen gab es wenige, die geballte Wut war jedoch überall spürbar – über die internationalen Firmen, über den brasilianischen Staat, der nie da ist, wo er gebraucht wird, über die weltweite neoliberale Entwikklung, die die Ressourcen im Amazonas als die ihrigen ansieht. Die BewohnerInnen des Amazonasgebietes und darüber hinaus wollen Verantwortung für ihr Land, für ihren Wald übernehmen – wenn man sie nur lassen würde. So kam es auch, dass die Veranstaltung von Naomi Klein und Noam Chomsky zwar im Programm angekündigt war, aber dann unauffindbar. Waren diese Sterne der Globalisierungsbewegung tatsächlich da? Es schien nicht wirklich wichtig. Hingegen war die Veranstaltung von Leonardo Boff und der Ex-Umweltministerin Marina Silva bis über den letzten Platz hinaus besetzt und als der Regen begann, standen außerhalb des Zeltes unter jedem Regenschirm drei Menschen eng gedrängt. Die Aussagen der beiden brasilianischen Berühmtheiten waren nicht neu, unsere Erde muss geschützt werden, die akute Krise ist eine Chance zum Wandel. Es war nicht wichtig, was gesagt wurde, es war wichtig, wer es sagte. Unterstützung und Anerkennung des Kampfes der Menschen aus Pará, Amazonas, Tocantins, Acre und den anderen Staaten war viel wichtiger, das wurde mit minutenlangem Applaus honoriert.
Dieses Weltsozialforum war vielleicht von außen betrachtet chaotisch und anarchisch, doch die jetzt schon gut organisierten Bewegungen des Amazonasgebietes haben meines Erachtens in Belém noch einen Schritt vorwärts gemacht. Die steigende Präsenz von „Gegenveranstaltungen“ u.a. von Gewerkschaften wie CUT, die stark kritisierte Projekte wie Belo Monte und Itaipú beim WSF verteidigt haben, deutet auf eine steigende Vorsicht und Beobachtung der sozialen Bewegungen in Amazonien hin. Die zunehmende Kriminalisierung von Bewegungen, welche oft Thema in den Veranstaltungen war, passt gut in diese Entwicklung. Die Aufmerksamkeit in Brasilien und auch weltweit hat den sozialen Bewegungen in dieser Woche neuen Auftrieb und Motivation gegeben. Die Zahl der brasilianischen BesucherInnen machte deutlich, dass es einen großen Bedarf an Vernetzung und Unterstützung gibt. Das sollten die europäischen Organisationen anerkennen und unterstützen. Denn wer letztendlich sein oder ihr Land rettet oder verliert, sind die BewohnerInnen des Amazonasgebietes. Mehr Bescheidenheit und Weitsicht würde – unter uns gesagt – den nordischen BesucherInnen ganz gut tun.
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